Das Kofferprojekt

In Erinnerung an die Flörsheimer Juden

Ein Erfahrungsbericht von Ida Rühl, 11-5

Relativ zu Beginn des Schuljahres fragte uns unser Geschichtslehrer Herr Mussel, ob wir nicht daran interessiert wären, bei einem Projekt mitzuwirken.

Der Flörsheimer Künstler Thomas Reinelt und der Flörsheimer Stolpersteineverein e.V. wollten ein Denkmal zur Erinnerung an die Deportation der Flörsheimer Juden im Zweiten Weltkrieg am Flörsheimer Bahnhof errichten, um darauf aufmerksam zu machen, dass auch in Flörsheim im Nationalsozialismus Menschen zur Zwangsarbeit genötigt wurden oder ihr Gotteshaus, die Synagoge, in der Reichsprogromnacht zerstört wurde. Diese Ereignisse sind passiert und man darf sie nicht vergessen!

Der Künstler und seine Frau Rosi Reinelt haben sich an unsere Schule gewandt, da die AG “Schule mit Courage” zum Beispiel schon an der Stolpersteineverlegung am 23.10.2020 teilgenommen hatte. Herr Mussel erklärte sich dazu bereit, das Projekt zu übernehmen und dachte dabei direkt an unsere geschichtsinteressierte Klasse, die auch sofort Feuer und Flamme für das Projekt war.

Was ist denn jetzt überhaupt das Kofferprojekt? Das Denkmal ist aus Metall gefertigt, bestehend aus einem Koffer, aus dem der Zipfel eines Gebetsschals herausguckt, und eine zusammengerollte Decke. Der Zipfel des Gebetsschals soll darstellen, dass die Juden unter großem Zeitdruck hastig ihren Koffer packen mussten, da dieser das Einzige war, was sie mitnehmen durften. Auch durften sie nur eine Decke mitnehmen, weshalb sich neben dem Koffer noch eine zusammen-gerollte Decke befindet. In dem Koffer, nicht sichtbar für die Außenwelt, befindet sich jedoch noch etwas. Es handelt sich um eine Zeitkapsel, deren genauen Inhalt nur unsere Klasse kennt. 

Unser Lehrer änderte also die Themenfolge und das Thema „jüdische Geschichte in Deutschland“ wurde eingeschoben, da das Projekt unbedingt in diesem Jahr fertiggestellt werden musste, da wir dieses Jahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland feiern, jedoch auch den Opfern des Nationalsozialismus gedenken. Wir machten also einen Schnelldurchlauf durch die Geschichte und setzten unseren Schwerpunkt dann jedoch auf das jüdische Leben in Flörsheim. Aufgrund des Zeitdruckes recherchierten wir auch zu Hause über die jüdische Geschichte in Flörsheim, da es ja leider noch den festgelegten Lehrplan gibt 😉…  

Um jedoch trotzdem etwas tiefer in das Thema eintauchen zu können, machten wir mit der Klasse zwei Exkursionen. Die Erste führte uns am 16.11. in unserer KL-Stunde zu dem Künstler Thomas Reinelt und seiner Frau Rosi. Hier waren wir jedoch nicht nur, um uns die Anfänge des Koffers anzugucken, sondern auch noch aus einem anderen Grund.

Die Familie Reinelt hat nämlich zufällig in ihrem Keller eine Mikwe aus dem 18. Jahrhundert gefunden und ausgegraben. Eine Mikwe ist das Ritualbad der Juden, was man nutzt, um wieder rein zu werden. Eine Mikwe muss immer einen fließenden Wasserzugang haben, da nur dieses Wasser rein ist. Frauen mussten zum Beispiel nach ihrer Menstruation oder nach der Geburt eine Mikwe aufsuchen.

Da die Reinelts in der Flörsheimer Altstadt wohnen und  somit nah am Main sind, bot es sich für die damaligen Juden an, hier eine Mikwe zu bauen, da der Main als Fluss natürlich ein fließendes Gewässer ist. Diese Mikwe war die Einzige in Flörsheim, die jedoch in Vergessenheit geriet, da das Nutzen der Mikwe untersagt wurde.

Der Grund für die Wassertemperatur, die durchschnittlich nur 7°C betrug, was nicht sehr gesundheitsförderlich ist und zum Beispiel for Frauen direkt nach der Geburt sogar gefährlich sein kann. Deshalb wurde dann eine neue Mikwe gebaut, in der es warmes Wasser gab. Diese befand sich jedoch nicht in Flörsheim.

Diese ganzen Informationen haben die Reinelts durch Nachforschungen herausgefunden und bei ihnen waren auch schon Amerikaner zu Besuch, die jüdische Vorfahren in Flörsheim hatten, die zu Lebzeiten vermutlich diese Mikwe benutzten.  

Nach diesen ganzen Informationen über die Mikwe waren wir natürlich total aufgeregt und wollten nun endlich einen Blick auf sie werfen. Malte und ich öffneten also unter Anweisung von Rosi die Abdeckung der Mikwe. Das Wasserbecken war nicht sehr groß und hatte eine Wassertiefe von ungefähr einem Meter. 

Nach der Besichtigung der Mikwe durften wir uns dann auch die Anfänge des Koffers angucken. Noch war nicht viel zu erkennen, aber wir waren alle gespannt, wie er am Ende aussehen wird. Da sich die Ruine der Flörsheimer Synagoge ebenfalls in der Altstadt befindet, machten wir nach unserem Besuch bei den Reinelts noch einen Abstecher zur Synagogengasse. Leider kann man nicht mehr viel von ihr erkennen, aber es ist noch eine Wand erhalten, auf der man einen hebräischen Text aus der Torah lesen kann.  

Unsere zweite Exkursion führte uns am 17.11. nach Frankfurt, da es dort zwei Museen gibt, die sich mit der jüdischen Geschichte beschäftigen.

Da unsere komplette Klasse zu viele Personen gewesen wäre, wurden wir in zwei Gruppen aufgeteilt, die jeweils in eines der Museen gingen und nach der Mittagspause wurde dann getauscht.

Meine Gruppe war zuerst im Museum „Judengasse“. Wie der Name schon sagt, befindet es sich dort, wo früher die Judengasse war. bevor man dieses jedoch betreten durfte, musste man, wie an einem Flughafen, durch eine Sicherheitskontrolle, um zu verhindern, dass etwas mitgenommen wird, was das Museum beschädigen könnte. Dort wurde einem bewusst, dass es heutzutage immer noch Antisemitismus gibt, weshalb Projekte, wie unser Koffer, unfassbar wichtig sind, um daran zu erinnern und auch als ein Mahnmal zu dienen. 

Neben dem Museum befindet sich auch noch der jüdische Friedhof, den wir uns durch Fenster angucken konnten. Er ist von einer hohen Mauer umgeben, an der kleine Gedenktafeln angebracht sind, die an die Opfer und ihr Schicksal erinnern. Das mussten wir erst mal sacken lassen, denn es war sehr erschreckend, wie viele Tafeln dort angebracht waren. 

Die Judengasse war früher ein eingezäunter Bereich außerhalb der Stadt, in der die Juden wohnen durften. Ihre Tore wurden nachts und an Sonn- und christlichen Feiertagen geschlossen. Tagsüber wurde jedoch Handel betrieben und auch christliche Bürger kamen in die Judengasse. Durch den begrenzten Raum war es sehr eng und die Häuser wurden immer schmaler und höher, weshalb Feuer eine sehr große Gefahr darstellte. In dem Museum gibt es alte Kellerruinen, bei denen einem noch einmal bewusst wird, wie eng es wirklich war. Streckt man seine Arme aus, kann man mit den Fingerspitzen beide Wände berühren und mit einer großen Armspannweite sogar beide Seiten mit der gesamten Handfläche berühren.  

Während unserer Museumsführung schauten wir uns einen alten 3D Stadtplan von Frankfurt an, auf dem man die Judengasse gut erkennen konnte.  Danach konnten wir uns in einem kleinen Kino einen Film über die Entstehung der Judengasse angucken. Vor der Leinwand war ein Ausschnitt der Judengasse aus weißen Häusern aufgebaut, auf der dann während des Films immer einzelne Bereiche bunt angeleuchtet wurden.  

Nach den Exponaten ging es dann zu den Überresten der Häuser.

Hier konnten wir uns abermals eine Mikwe angucken, welche natürlich nicht so toll war, wie unsere in Flörsheim 😉.  

Nach der Führung hatten wir dann noch genügend Zeit, uns nochmal alleine umzusehen. Hierbei fanden wir als Highlight zwei Eastereggs, eine kleine Maus aus Kunststoff, die an der Wand befestigt war, und einen Kronkorken, der mit in die Wand eingebaut war. Wenn ihr also mal im Museum „Judengasse“ seid, habt ihr jetzt eine Aufgabe: Findet die Maus und einen über 100 Jahre alten Kronkorken 🙃. 

Nach der Mittagspause „tauschten“ wir dann das Museum und meine Gruppe ging nun in das jüdische Museum Frankfurt. Dort mussten wir erneut durch eine Sicherheitskontrolle. Im Museum bekamen wir eine Chipkarte, mit der man an bestimmten Stellen im Museum Ausstellungsstücke scannen konnte, um sie sich zu Hause nochmal in Ruhe angucken zu können. Vor dem Museum steht ein Kunstwerk, welches wir gemeinsam interpretierten. Unsere Klasse war sich in einigen Punkten einig, wie zum Beispiel, dass es um Entwurzelung geht. Bei manchen Aspekten hatten wir jedoch ganz unterschiedliche Auffassungen, aber das macht Kunst ja so interessant! Was sind eure Gedanken zu dem Baum?   

Während unserer Museumsführung erfuhren wir viel über jüdische Künstler und über den jüdischen Künstler Moritz Oppenheim. Am Ende unserer Führung kamen wir in einen Raum, in dem Juden, die den Anschlag am 09.10.2019 miterlebten, Vokale sangen. So entstand ein lautes Summen, welches manchmal melodisch, manchmal jedoch dissonant klang. 

Nach dem Input der letzten Tage hatten wir Zeit, uns darüber Gedanken zu machen, was wir zur Zeitkapsel beitragen wollten. Diese befüllten wir dann am 23.11. und gingen danach zu den Reinelts, um die Kapsel im Koffer „beizusetzen“. Hierfür hatten wir eine kleine Zeremonie organisiert. Jede*r bekam eine Kerze und es wurden Geschichten erzählt und Gedichte vorgetragen. Ronja, eine Schülerin aus der Oberstufe, spielte auch etwas auf der Geige vor, was die ganze Zeremonie abrundete. Dann wurde die Zeitkapsel im Koffer beigesetzt, welcher dann direkt von Thomas Reinelt zugeschweißt wurde.  

Am 28.11.2021 war dann die langersehnte Einweihung unseres Koffer-DenkMals. 

Hierbei war natürlich unsere Klasse vertreten, jedoch auch der Stolpersteinverein, die Presse, der Bürgermeister und einige interessierte Bürger*innen. 

Der Vorsitzende des Stolpersteinevereins und der Bürgermeister hielten eine Rede, in der sie auch nochmal ihre persönlichen Gedanken und Geschichten zu dem Denkmal mit uns teilten.

Danach folgte ein Gedicht von Caro, namens Schicksalszug und als wäre es geplant gewesen, fuhr in den Moment ein Zug durch den Bahnhof.

Dann folgte eine weitere Rede von Rosi, die ganz gerührt war, dass der Koffer jetzt endlich eingeweiht wird. Chiara fasste unser ganzes Projekt nochmal knapp zusammen, damit die Bürger*innen nochmal einen Eindruck aus Schüler*innensicht bekamen. Nach Chiara trug Linda noch ein Gedicht namens der Koffer vor, da dieses ebenfalls sehr gut zu unserem Projekt passte. Nach einer Schweigeminute legte unsere Klasse Rosen vor das DenkMal, was Herr Frank mit einem Stück auf seiner Posaune unterstützte.  

Am letzten Schultag kam uns der Stolpersteinverein besuchen, von dem wir Bilderrahmen mit Bildern von diesem großartigen Projekt bekamen, die wir nach den Ferien direkt in unserem Klassenraum aufhängen werden. Außerdem ist noch eine Broschüre zusammen mit Rosi Reinelt in Planung, bei der wir natürlich wieder mitwirken dürfen. 

Ich bin sehr dankbar und stolz, Teil eines solch schönen und wichtigen Projekts sein zu dürfen. Es hat sehr großen Spaß gemacht und wir haben sehr viel über jüdisches Leben in Deutschland und spezifisch in Flörsheim gelernt. Außerdem ist Denkmal eine sehr wichtige Botschaft, denn unsere Generation trägt keine Schuld daran, was im Nationalsozialismus passiert ist, doch wir tragen die Verantwortung dafür, dass so etwas Schlimmes nie wieder passiert! 

Wer nach diesem Artikel neugierig geworden ist, kann ja dem Flörsheimer Bahnhof einen Besuch abstatten und sich das Koffer-Denkmal in echt anschauen.