Denkanstoß

Demonstrieren – wichtiges Statement oder doch nur verschwendete Energie?

Warum demonstrieren wir eigentlich?

Ein Essay von Tamara W. Behnisch, Klasse 12

Beispielfoto (Quelle: www.pixabay.com)

„Raus, raus, raus mit den Taliban!“, schrien wir und forderten internationale Solidarität und verantwortungsvolles Verhalten. Das war vor einigen Wochen auf der Afghanistan-Demonstration* in Frankfurt. Viele der Demonstrantinnen und auch ich waren betroffen und entsetzt über die Bilder, die wir vom Kabuler Flughafen sahen und die Angst, die die Menschen dort nun auf Grund des Truppenabzugs der NATO-Staaten*** und der Machtübernahme der Taliban ertragen müssen. Aber wem rufen wir zu, wenn wir durchs Frankfurter Bahnhofsviertel laufen?

Die Bundesregierung ist weit weg und Joe Biden (US-Präsident) und Afghanistan erst recht. Wieso mache ich das überhaupt, wenn es doch so aussichtslos erscheint? Was, außer einem besseren Gewissen und Heiserkeit, bewirke ich wirklich durch das Demonstrieren?

Demonstrationen sind der Inbegriff von Bewegungen und Veränderung. Sie geben vielen Menschen das Gefühl Teil einer Gemeinschaft zu sein, die für dieselbe Sache kämpft. Gerade in unserer Generation mit Blick auf die Klimakrise gewinnen Demonstrationen wieder mehr an Bedeutung.

Mir geht das nicht so. Meistens gehe ich frustriert und wütend von Demos nach Hause. Wut auf die Dinge, die in diesem Land falsch laufen und auf die Probleme, die die Menschheit produziert. Wut auf Menschenrechtsverletzungen, Welthunger, die Klimakrise, Ausbeutung und letztendlich auf mich selber, weil ich nicht die Kraft habe auch nur ansatzweise etwas daran zu ändern. Nein, ich trage sogar mit meiner Lebensweise maßgeblich zu den genannten Problemen bei. Und das ist etwas, was mich enorm frustriert und mich fragen lässt: Was bringt Demonstrieren eigentlich? Kann ich damit wirklich etwas bewegen?

Diesen Fragen möchte ich mich in meinem Essay widmen.

Zuerst möchte ich euch meine Kritik und Bedenken an Demonstrationen darlegen und dann erklären, wieso ich es trotzdem als wichtig empfinde, demonstrieren zu gehen.   

Zuallererst verstehe ich unter einer Demonstration das Zusammenkommen von mehreren Menschen, um auf ein gesellschaftliches oder politisches Thema oder Problem aufmerksam zu machen und ihrer Wut, ihrem Unmut Luft zu machen.

Kundgebung von FridaysForFuture in Frankfurt am Main, 13.8.2021
(Quelle: Wikimedia Commons, Leonhard Lenz)

Zudem ist Demonstrieren eine Botschaft an Politikerinnen, Parteien, Organisationen, Wirtschaftsbosse oder andere Mächtige, aber auch direkt in die Gesellschaft hinein: Hey, wir sind da, wir sind laut und wir haben ein Auge auf gesellschaftliche und politische Probleme und wir tun diese auch laut kund. Ihr könnt nicht denken, dass euer Verhalten ungesehen und ungestraft bleibt! Wir stehen für unsere Rechte ein! Und wir haben Forderungen und Wünsche an euch!

Zwar ist eine Demonstration auch ein Ort der Information und des Austauschs. Meist finden sich auf Demonstrationen Gleichgesinnte und haben dort die Möglichkeit, sich auch weiterführend zu informieren oder einfach locker über verschiedene Meinungen zu diskutieren. Diese Gelegenheit sich in Gruppen zu verbinden, um sich gegenseitig zu bestärken, zu helfen und weitere Aktionen zu planen, ist sehr wertvoll. Ein Beispiel dafür ist das “Be Heard” Kollektiv, welches sich im Rahmen der BlackLivesMatter** Bewegung bildete und eine lose Gruppe von Menschen ist, die sich gegen Diskriminierung, Rassismus und Polizeigewalt einsetzt.

So sinnvoll Demonstrationen auf den ersten Blick erscheinen, möchte ich auf einen Aspekt hinweisen, der, wie oben schon gesagt, in mir Unmut auslöst:

Leider gibt es das Risiko von Radikalisierungen, die in Demonstrationen noch mehr gefördert werden können. Bei Demos werden in der Regel gut einzuprägende, oft pauschalisierende und emotionalisierende Phrasen genutzt. Dies ist wichtig, um komplexe Themen herunterzubrechen und auf das Kernproblem aufmerksam zu machen, was auch die Aufgabe von Demonstrationen ist. Es kann aber dennoch dazu führen, dass für komplizierte Situationen ein Feindbild geschaffen wird, das für alles Schuld tragen soll. Zum Beispiel ein Politiker oder eine gesellschaftliche Gruppe. Allgemein kommt es häufig zu provokanten, sehr hasserfüllten Sätzen, die in dem Zusammenhang auch oft wichtig sind, um die Dringlichkeit und Bedeutsamkeit des Problems darzustellen und auch der Wut Luft zu machen. Leider nehmen das manche Menschen zum Anlass mit Hass als Motivator zu handeln. Das kann zu Anfeindungen und Drohungen gegenüber den Hassfiguren – z.B. eines Politikers führen – bis zu realen körperlichen Taten.

Mögliche andere Reaktionen auf dieses Schwarz-Weiß-Denken, das bei Demos oft gepredigt wird (nach dem Motto: „Wir stehen auf der guten Seite! Alle anderen sind unmoralisch und unengagiert.“), und das emotionale Pauschalisieren können aber auch schlichtweg schlecht informierte, unreflektierte und von sich und ihrer Meinung sehr überzeugte Demonstrantinnen zur Ursache haben.

Aber auch auf der anderen Seite können Sätze wie „All Cops Are Bastards“ sehr abschreckend wirken auf Menschen, die zwar ähnliche politische Meinungen vertreten, aber Vertrauen in den Polizeiappart haben, oder wenigstens nicht möchten, dass einzelne Fehler zu einer Verteufelung der Institution führen, die in unserem Land für Sicherheit und Ordnung sorgen soll.

Dies können alles Folgen von pauschalen, verteufelnden Aussagen auf Demos sein.

Zwangsläufig gelange ich wieder an den Anfang und an die Frage: Ist Demonstrieren wirklich so bedeutend, dass man dafür diese Folgen in Kauf nehmen möchte? Oder wäre es nicht sinnvoller Themen, wie z.B. Polizei oder Migration zu entemotionalisieren und praktische Veränderungen durch Einbringen in die Politik zu erwirken statt zu Demonstrieren? Mit praktischen Veränderungen meine ich zum Beispiel den Eintritt in eine Partei und dadurch die Mitgestaltung im politischen Geschehen. Oder als Beispiel: Statt über die schlechte Integrationspolitik zu meckern, selbst einen Deutschkurs zu initiieren. Diese beiden Dinge müssen nicht im Widerspruch zueinanderstehen, dennoch muss man sich fragen, was im Endeffekt sinnvoller ist und die besseren Ergebnisse erzielt.

Kundgebung von FridaysForFuture in Frankfurt am Main, 13.8.2021
(Quelle: Wikimedia Commons, Leonhard Lenz)

Denn Demonstrationen alleine verändern noch keine Gesetze. Die politischen Entscheidungen werden nur bedingt auf der Straße getroffen, und das muss einem beim Demonstrieren klar sein. Man kann vielleicht durch Demonstrationen ein ungefähres Stimmungsbild in der Gesellschaft zeichnen, wonach die Politikerinnen sich dann orientieren um weiterhin gewählt zu werden. Jedoch werden selten Forderungen auch wirklich eins zu eins umgesetzt.

Zusätzlich denke ich, dass es sich manche Demonstrierende zu einfach machen. Denn es ist immer leichter darüber zu meckern, was alles schlecht bei anderen läuft, statt bei sich selber zu schauen, wie man im Einklang mit den eigenen Prinzipien Veränderungen anstoßen kann.

Diese kritischen Aspekte sind wichtig in der Betrachtung von Demonstrationen, trotzdem sind Demonstrationen notwendig und relevant, was ich im Weiteren beschreiben möchte.

Unmittelbar muss ich da an das Beispiel der Hanau-Demo vor circa 1 ½ Jahren denken, welche die Aufarbeitung der Geschehnisse vom 19. Februar 2020 forderte und Solidarität zeigte mit migrantischen Menschen, die tagtäglich von Diskriminierung betroffen sind. Jeder einzelne Name der Opfer: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtovic, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov, Gabriele Rathjen (https://www.swr3.de/aktuell/hanau-attentat-erinnerung-angehoerige-100.html) wurde laut benannt, um allen zu zeigen, dass das Leben dieser Menschen und ihr schrecklicher Tod niemals vergessen wird. Als der Demozug durch eine Straße führte, in denen viele Menschen mit Migrationshintergrund leben, haben zahlreiche ihre Häuser oder Geschäfte verlassen. In etlichen Gesichtern konnte man sehen, wie gerührt sie über die große Masse der Menschen waren, die gegen Rassismus auf die Straße gehen. Auch die Angehörigen der Opfer schätzen es so sehr, nicht alleine dastehen zu müssen. Sie trauerten um ihre Söhne, Töchter, Schwestern, Brüder, und es ist enorm wichtig, den Trauernden den Raum zu schaffen, um ihre Emotionen und Gedanken ohne Bewertung zu teilen. Und da wurde mir zum ersten Mal klar, dass es nicht immer nur um weltbewegende politische Veränderungen geht, wenn man auf die Straße geht, sondern „im Kleinen“ um den Zusammenhalt und die Stärkung innerhalb der Gesellschaft. Es geht darum, Personen eine Stimme zu geben, die sonst nicht die Chance dazu bekommen. Ganz praktisch bedeutet das, dass es ihnen erlaubt ist auf der Bühne zu stehen und über ihre Lebensrealitäten und politischen Meinungen zu sprechen. Vor allem für Opfer von systematischer Diskriminierung kann es ermutigend und erbauend sein, im Kreis von Unterstützerinnen oder Mitbetroffenen über ihre Erfahrungen zu berichten, weil sie verstanden und nicht verurteilt werden.

Außerdem geht es darum Probleme, die zuvor nicht so präsent waren, an die Öffentlichkeit zu bringen und den Mainstream zu „ziehen“. Das hat bei FridaysForFuture sehr gut geklappt, weil nicht nur die Politikerinnen sich mit dem Thema Klima neu beschäftigen mussten, sondern auch Eltern und Lehrer:innen von Demonstrant:innen. Auf einmal war das Thema wieder in aller Munde.   

Dieses Aufgebot von Personen, die sich für ein Thema einsetzen, kann aber auch neben diesem gesellschaftlichen Aspekt zu politischen Reaktionen führen. Ein Beispiel dafür ist die FridaysForFuture-Bewegung, die eine ganz neue Dringlichkeit in das Thema Klimaschutz gebracht hat. Greta Thunberg, der Kopf dieser Bewegung, hielt zum Beispiel eine Rede im Rahmen des UN-Klimagipfels (https://youtu.be/SfCUcDAlSKk), wo sie vor hochrangigen Politikerinnen die bisherige Klimapolitik sehr stark kritisierte. Die FFF-Bewegung wurde auch in der Politik breit diskutiert. Man kann nicht leugnen, das von Seiten der Politikerinnen auch viel Kritik und Unverständnis dabei waren und die Forderungen der FFF-Bewegung weitgehend nicht erfüllt wurden. Trotzdem polarisierten die Demonstrant:innen, übten Druck auf die Politik aus und brachten viele Politiker:innen in Erklärungsnot.

Das ist jetzt natürlich ein sehr großes, bekanntes Beispiel, aber auch im Kleinen können Demonstrationen zu konkreten Handlungen führen. Zum Beispiel eine fiktive Anwältin, die sich von der Anzahl der Menschen so ermutigt fühlt, dass sie sich fachlich umorientiert und sich einsetzt für Klimagerechtigkeit. Oder eine Schülerin, die animiert von einer Demo sich entscheidet, einer Partei beizutreten, die sich für Klimaschutz einsetzt und dort politische Umgestaltung bewirkt.

Schlussendlich bin ich überzeugt, dass es ausgesprochen wichtig ist, auf Demonstrationen zu gehen, wenn dich ein Thema beschäftigt oder interessiert. Natürlich kann man als Einzelperson nicht viel bewegen. Doch je größer die Masse der Demonstrierenden ist, desto schwerer ist es für die Politik, ihre Forderungen zu ignorieren. Außerdem bewegt man immer noch mehr, als zu Hause auf der Couch zu sitzen und zu schimpfen.

(Quelle: www.pixabay.com)

Wir haben zudem sogar schon fast die Pflicht demonstrieren zu gehen, wenn es uns nicht passt. Denn es ist unser Grundrecht uns an öffentlichen Plätzen zu versammeln und zu protestieren (GG Art.8). In vielen anderen Ländern ist dies nicht möglich. Deshalb ist es umso wichtiger, die Demokratie und Meinungsfreiheit nicht einfach als gegeben anzunehmen, sondern sie auch zu verteidigen, indem wir von ihr Gebrauch machen.

Trotzdem erachte ich es als bedeutend, dass man sich vorher über die persönlichen Motivationen bewusst wird und sich informiert. Für den Erfolg einer politischen Veränderung, wie zum Beispiel dem radikalen Klimaschutz, braucht es nämlich nicht nur Menschen, die belehrend auf Demonstrationen herumrennen, sondern gleichzeitig auch solche, die einhergehende Einschränkungen (höhere Fleisch-, Textil-, und Flugpreise/ tendenziell kleinere Wohnfläche etc.) aushalten und mittragen. Deshalb halte ich es für elementar wichtig, sich klarzumachen, wofür oder wogegen man demonstrieren geht, und die Entscheidung dementsprechend bewusst trifft. Durch diese Bewusstmachung kann man vermeiden, dass Demonstrationen zu Veranstaltungen ausarten, auf denen sich Hipster treffen, um ihrem linken Selbstbild oder ihrem Tinder-Profil zu entsprechen.

Ich habe für mich herausgefunden, dass die Vorteile und auch positiven Ergebnisse des Demonstrierens klar überwiegen. Ich werde weiterhin demonstrieren gehen, einfach auch aus dem Grund, weil das für mich als junger (minderjähriger) Mensch, auch aktuell in Zeiten der Bundestagswahl, eine der wenigen Möglichkeiten ist, „meine Stimme abzugeben“. Trotzdem habe ich im Prozess des Schreibens auch bemerken müssen, dass ich mich aus meiner Kritik gar nicht herausnehmen darf. Ansonsten besteht auch für mich die Gefahr, dass ich nur noch demonstrieren gehe, um mein Selbstbild zu bestätigen und nicht, auf Grund der Dringlichkeit der Themen oder einer politischen Überzeugung. Denn sonst verlieren Demonstrationen ihren Wert, was sehr schade wäre. Denn: Demonstrieren ist ein elementarer Grundfeiler unserer Demokratie!

* Von 1994 bis 2001 waren die Taliban (eine fundamentalistische Organisation, die islamistischen Terror ausübt) bereits an der Macht in Afghanistan. Am 11.September 2001 gab es dann islamistische Anschläge in den USA, woran die Taliban beteiligt sein sollten. Daraufhin schickten die USA und 50 andere Staaten Soldatinnen nach Afghanistan, um den Afghaninnen zu helfen, die Taliban zu bekämpfen. Nun, nach 20 Jahren entschieden die USA ihre Truppen abzuziehen und ab jetzt statt militärisch, diplomatisch gegen die Taliban anzukämpfen. Weil die anderen Staaten nicht genug militärische Macht haben, um den Taliban alleine die Stirn zu bieten, mussten sie auch abziehen. Darauf haben die Taliban die Macht wieder übernommen. 

**Die BlackLivesMatter Bewegung ist eine internationale Bewegung, die sich mit Protesten, gegen Gewalt gegen schwarze Menschen einsetzt.

***NATO – Militärisches Verteidigungsbündnis westlicher Staaten