Zeitzeugengespräch mit Norbert Sachse am GSG

„Wir haben jetzt beide einen Finger im Arsch, aber nur sie haben Spaß daran.“

Ein Bericht von Ida Rühl, Klasse 13D

Mit dieser und vieler weiterer Aussagen machte sich Norbert Sachse, Spitzname AC, unter den Stasimitarbeitern einen Namen, denn er galt als vorlauter Gefangener, der auch in den heikelsten Situationen eine höhere Strafe riskierte, um die Gefängniswärter oder Stasimitarbeiter zu veräppeln. Doch wie kam es dazu, dass Norbert Sachse überhaupt ins Gefängnis kam?


Am Dienstag, dem 20.02.2024, fand in der Aula unserer Schule ein Zeitzeugengespräch mit Herrn Sachse statt. Er wuchs in einem sehr kommunistisch geprägten Haushalt in der DDR auf. Sein Vater war engagiertes Parteimitglied der SED und auch seine Schwester trat der Partei bei, sobald sie 18 Jahre alt war. Sachse durchlebte durch sein Elternhaus zunächst also eine „normale“ Kindheit in der DDR. So durchlief er beispielsweise die verschiedenen Schritte der Jugendgruppen, beginnend mit den Jungpionieren.

Im Alter von 16 Jahren geschah für ihn ein einschneidendes Ereignis, was ihn die Staatsführung der DDR und auch seine Erziehung hinterfragen ließ. Mit dem Einmarsch der Sowjetunion in die Tschechoslowakei, erkannte Norbert Sachse, dass dies keineswegs einen „Befreiungskrieg“ darstellte, sondern es nur als öffentlichkeitstaugliche Rechtfertigung für das Handeln galt. Aus diesem Grund schlich er sich nachts heimlich aus dem Haus, bewaffnet mit einem Eimer Farbe und einer Pistole, die er einem Offizier mit einer Flasche Vodka abkaufen konnte. Scherzend erzählte Sachse, er hätte vermutlich einen Panzer erwerben können, hätte er nur genug Vodka gehabt. Mit der Farbe malte er Hakenkreuze über die roten Sterne der sowjetischen Militärfahrzeuge. Damit wollte er symbolisieren, dass sich die UDSSR nicht besser verhielt als das Naziregime im Zweiten Weltkrieg. Bei dieser Aktion wurde er glücklicherweise nicht erwischt, jedoch war das Glück bei seiner zweiten Aktion gegen das System nicht mehr auf seiner Seite, weshalb er das erste Mal mit dem Gesetz in Konflikt kam.

Mit einer alten Schreibmaschine entwarf er 200 Flugblätter. Einen Teil der Blätter warf er in Briefkästen, von denen er wusste, dass sie zu Stasimitarbeitern gehörten, die anderen wollte er von der Brüstung eines Kaufhauses werfen, damit sie im gesamten Gebäude durch die Luft flatterten und letzten Endes in der Einkaufsmenge landeten. Bei diesem Vorhaben wurde er jedoch festgenommen. Daraufhin verbrachte er zwei Wochen in einer Zelle der Staatssicherheit, ohne dass er wusste, was mit ihm geschehen würde und wie lange er noch in der Zelle bleiben musste. Norbert Sachse erzählte uns, er habe versucht, alte Lieder aus seiner Kindheit zu singen, Gedichte aufzusagen und selbst welche zu schreiben, um sich in irgendeiner Form die Zeit zu vertreiben. Er beschreib jedoch, dass sich das Erfinden von Gedichten als sehr schwierig gestalten würde, wenn man weder Papier noch Stifte besäße. Nach zwei Wochen erhielt er dann seine Strafe. Er wurde zu zwei Jahren und neun Monaten Haft in einem ehemaligen Zuchthaus verurteilt. Dabei blieb ihm Unterstützung durch einen Anwalt verwehrt, da dieser ihn nicht verteidigte, um seinen Job zu behalten.

Nach der Verurteilung begann nach langer Zugreise seine Haft am 13. August 1971, genau am Jubiläumstag der Berliner Mauer oder auch „antifaschistischer Schutzwall“, wie sie in der DDR genannt wurde. Dort angekommen wurde er gründlichst untersucht, damit er nichts ins Gefängnis schmuggeln konnte. Dadurch wurde auch in seinem Anus nachgesehen, ob er auf diesem Wege versucht, etwas zu schmuggeln. Dort zeigte er sich den Wärtern gegenüber erstmals aufmüpfig, mit besagtem Zitat: „Wir haben jetzt beide einen Finger im Arsch, aber nur sie haben Spaß daran“, woraufhin er mit einem Stock geschlagen wurde.

Untergebracht wurde Sachse in einer Zelle mit sechs weiteren Gefangenen. Diese waren keinesfalls Gegner des Systems, sondern teilweise Schwerverbrecher, welche wegen Vergewaltigung oder Mord eingesperrt wurden. Dadurch, dass er sich jedoch direkt Respekt verschaffte, hatte er mit den Mitinhaftierten in der Regel keine Probleme. Unter anderem auch, da er sich geschickt „Bodyguards“ zulegte und andere gegen Bezahlung für sich arbeiten ließ. Aufgrund seiner frechen Kommentare und einer kontroversen Wandzeitung, wurde er in den Erwachsenenvollzug verlegt. Dort waren hauptsächlich Akademiker und Gegner des Systems inhaftiert, weshalb er sich nun unter Gleichgesinnten und nicht mehr unter Schwerverbrechern befand. Dort erfuhr er erstmals von einem Anwalt namens Dr. Vogel, welcher Ausreisen in die Bundesrepublik Deutschland ermöglichte. Leider war es ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich, den Anwalt zu kontaktieren, da seine Briefe nicht zugestellt wurden.

Dank neuer Beschlüsse leerte sich der Erwachsenenvollzug zunehmend und auch Norbert Sachse wurde als einer der letzten entlassen. Er wohnte daraufhin wieder in seinem Elternhaus, doch wurde es ihm nicht gestattet eine Ausbildung zu beginnen, in die Grenzbereich zu reisen oder einen Personalausweis zu besitzen. Daher schreib er mehrere Ausreiseanträge und wurde nach dem dritten Antrag zur Staatssicherheit vorgeladen, jedoch brachte auch dieser keinen Erfolg mit sich. Noch während seines Gefängnisaufenthaltes erfuhr er von Oskar Brüsewitz, welcher sich auf dem Marktplatz mit Benzin übergoss und anzündete, um ein Zeichen gegen das Regine der DDR zu setzen. Um bei einer ähnlichen Aktion nicht zu sterben, mischte Sachse sich eine Flüssigkeit an, mit der er sich in der Nähe des Brunnens in Berlin auf dem Alexanderplatz übergoss und anzündete. Passanten löschten ihn und er wurde in ein Krankenhaus geliefert. Da ihm seine Auflagen verboten, den Alexanderplatz zu besuchen, weil dieser im Grenzbereich lag, und er durch das Anzünden das Regime in Frage stellte, wurde er erneut inhaftiert.

In Waldheim sollte daraufhin ein psychologisches Gutachten über ihn erstelltwerden. Dazu stellte ihm die behandelnde Ärztin abstruse Fragen. Ein Beispiel war: „Was machen Sie, wenn Sie im Wald spazieren gehen und vor Ihnen taucht ein U-Boot auf?“. Kess wie er es schon immer gewesen war, antwortete Norbert Sachse, dass er sich dann „selbst hier einweisen würde“. Eine weitere Frage der Ärztin lautete: „Was machen Sie, wenn Sie sich im Wald verlaufen?“. Sachses Antwort war schlicht, denn er ginge nie spazieren. Die Ärztin veränderte das Fallbeispiel immer etwas, doch Sachse gab ihr keine zufriedenstellende Antwort. Seine letzte Antwort auf die Frage, warum er nicht spazieren ginge, lautete „nicht, dass ein U-Boot auftaucht“. In der Aula mussten einige der Schüler schmunzeln, doch die behandelnde Ärztin fand dies ganz und gar nicht amüsant. In Sachses Bericht stand, er würde ihre Fragen nicht ernsthaft beantworten und sie veräppeln. Einer der einzigen stimmigen Punkte im Gutachten.

Nach der Erstellung des Gutachtens, wurde Norbert Sachse erneut verurteilt, dieses Mal jedoch für vier Jahre und neun Monate. Dagegen legte er Berufung ein und wurde tatsächlich vorgeladen. Er sollte seine Berufung zurückziehen, doch Sachse blieb standhaft, bis er ein Angebot erhielt, welches er nicht ablehnen konnte. Ihm wurde angeboten, dass seine Haft auf ein Jahr verkürzt und seine Ausreise in die BRD erlaubt würde, wenn er die Berufung zurückzöge. Daraufhin wurde er nach Bautzen 2 transportiert. Dort befanden sich hauptsächlich politische Gegner, wie auch er einer war. Nach einem erneuten Transport konnte er sich mit dem Anwalt Dr. Vogel in Verbindung setzen und einen weiteren Ausreiseantrag stellen. Dieses Mal funktionierte es. Er und einige Mitgefangene fuhren am 25. Juni 1975 über die Grenze zwischen DDR und BRD. Sachse beschrieb die Busfahrt als sehr bewegend, denn einige waren schon seit Ende des Zweiten Weltkrieges in sowjetischer Gefangenschaft. Anstelle von lauten Jubelschreien lag man sich mit Tränen in den Augen in den Armen, da das Leiden nun endlich ein Ende haben sollte.

Norbert Sachse konnte bei Verwandten in Göttingen Fußfassen und eine Ausbildung abschließen. Seitdem lebt er in Deutschland und ist auch nach der Wiedervereinigung nicht wieder in die ehemalige DDR gezogen. Am Ende seines Vortrages appellierte er an uns Schüler, dass wir uns niemals einer extremen und demokratiefeindlichen Partei zuwenden sollen, da er weiß, wie es ist in einer Diktatur zu leben und wir die Demokratie daher schätzen müssen, da sie eines der wichtigsten Güter ist. Abschließend lässt sich sagen, dass Norbert Sachse ein beeindruckender Mensch mit einem übernatürlichen Durchhaltevermögen ist. Trotz der Gefahr, schlimme Strafen auferlegt zu bekommen oder körperliche Gewalt zu erfahren, hat er sich gegen ein totalitäres Regime gestellt und das mit gerade einmal 16 Jahren. Damit war er jünger als alle anwesenden Schüler der Q4. Was mich besonders beeindruckt hat ist dass er trotz drohenden Schlägen nie seinen Humor verloren hat und den Wärtern und Stasimitarbeitern immer wieder aufs Neue die Stirn geboten hat. Generell wirkt Herr Sachse, als hätte er keine bleibenden Schäden zurückbehalten. Er sagte auch selbst, dass die Zeit hinter ihm läge und er Schülern gerne davon erzählt, damit sich die Geschichte nicht wiederholt.