5. Türchen
„Neger“ – warum wiegt Pippi Langstrumpf mehr als Anti-Rassismus?
Ein Essay von Michelle Deckert, Klasse 11-5
Jeder kennt sie, Kinderbuchklassiker wie „Pippi Langstrumpf“, die „Kleine Hexe“ oder den „Struwwelpeter“. Jeder weiß auch, dass in diesen Geschichten Worte wie „Neger“ oder „Negerlein“ benutzt werden. Jedem ist auch bekannt (hoffe ich), dass die Worte als Beleidigung und diskriminierend gelten. So, wenn das alles klar ist, frage ich mich: Wieso wollen Sie trotzdem, dass ihr Kind diese Worte liest und abspeichert?
Eine längst überfällige Entscheidung steht an und trotzdem sind nur 22% dafür, warum? Die Umfrage des Meinungsforschungs-institut YouGov aus dem Jahr 2013 zeigt, nur etwas über ein Fünftel der Befragten wollen diskriminierende Wörter aus Kinderbüchern entfernen. Ich garantiere Ihnen aber, dass sich 95% der Befragten als offen und „gegen Rassismus“ bezeichnen würden. Da sieht man mal wieder die Standhaftigkeit der Menschen.
Wir rühren unsere geliebten Bücher nicht an, wollen uns aber gleichzeitig als Gesellschaft des Fortschritt in Sachen Gleichberechtigung verkaufen? Wohl kaum, eher Gesellschaft des „Wenn es wenig Aufwand ist, mache ich es, ansonsten ist es mir zu viel“. Aber gut, man kann ja auch nicht erwarten, dass sich der „allgemeine Weiße“ für die Probleme von Minderheiten sensibilisieren kann, oder doch? Denn wenn „Neger“ auf der Straße fällt, stößt das eben doch vielen Leuten auf und sie setzen sich für die beschimpfte Person ein. Warum zählt das „Negerlein“ im Buch also als weniger rassistisch als das „Negerlein“ auf dem Schulweg? Denn eigentlich ist es schlimmer, Kinder lesen die Bücher und wachsen mit dem Bewusstsein auf, dass es normal und in Ordnung wäre, diese Begriffe zu benutzen. Sie können die Begriffe nicht einordnen und binden sie, wie alles, was sie in Büchern lesen, in den Sprachgebrauch mit ein. Und anstatt dann an den Jugendlichen herumzumeckern, die diese Worte benutzen, sollten wir lieber Kinder erziehen, die diese Wörter erst gar nicht lernen, vor allem nicht aus einem Kinderbuch.
Das ist übrigens auch keine Zensur – das Lieblingsargument der Gegner. Denn wir haben es hier nicht mit historischen Quellen zu tun, deren Sprache man mit allen Mitteln bewahren muss. Es geht um ein Kinderbuch mit einer erfundenen Geschichte. Erfunden bedeutet aber nicht, dass sie losgelöst von moralischer Verantwortung ist. Bei heutigen Geschichten gäbe es auch sofort einen Shitstorm, wenn „Neger“ verwendet werden würde.
Wieso schützt die Zeit Rassismus? Wieso verhindert der Status „Klassiker“, dass Änderungen vorgenommen werden?
Bevor wir das vergessen, es geht nicht um grundlegende Änderungen, die den Lauf der Geschichte stören. Nein, es geht um das Austauschen von wenigen Wörtern. Das tut dem Text nicht weh, den Menschen, die durch diese Worte diskriminiert werden, aber schon. Trotzdem erwidern viele Gegner, dass das ja gar nicht so schlimm sei. Doch, sage ich, es ist sehr wohl schlimm!
Schlimm, dass so viele Leute immer noch wegschauen, nur, weil einem der Rassismus nicht laut ins Gesicht geschrien wird. Schlimm, dass zahllose Eltern ihre Kinder lieber mit Beleidigungen füttern, anstatt sich einzugestehen, dass das Lieblingsbuch diskriminierend ist. Denn nichts tun ist nie der richtige Weg. Die Annahme, dass es einen nicht betrifft, ist immer die Falsche. Rassismus trifft jeden, jeder hat die Pflicht zu versuchen, etwas dagegen zu tun.
Am Ende möchten doch alle Eltern, dass ihre Kinder in einer besseren Welt aufwachsen. Ein Schritt in diese Richtung wäre eben eine kleine Veränderung in den Kinderbüchern, die wir jeden Abend vorlesen. Ein kleiner Schritt für die Verlage, aber ein großer Schritt für die Menschheit, wenn Sie so wollen. Denn sonst frage ich mich, wie wir gegen Diskriminierung und Rassismus vorgehen wollen, wenn wir uns zu schade sind, ein veraltetes Kinderbuch zu verändern.