Eine Geschichte zwischendurch

Why are you creative?

Ein Denkanstoß von Noëlle Klasner anlässlich des Pullout-Tages 2018


“Because I realize that the world in which I live is inherently unpredictable. I must use my imagination and test it against reality.”

(George Soros)


Mein Name ist George Soros.

1930 in Budapest geboren, heute einer der reichsten Menschen der Welt. Viele von Ihnen kennen mich vielleicht – ich finanziere nur zu gern Organisationen, um Länder ins Chaos zu stürzen, weil ich natürlich möchte, dass es den Menschen in ihrem Land jeweils schlechter geht, ja genau, das ist mein Ziel. Das ist doch das, was Sie von mir hören wollen, mein lieber Ministerpräsident Ungarns? Und Sie, Mister Glenn Beck, mein liebster erzkonservativer Moderator der FOX-News? An dieser Stelle würde ich direkt ganz gerne mit meiner Danksagung anfangen. Ja ja, ich weiß, die kommt eigentlich zum Schluss, aber ich kann es einfach kaum erwarten, einigen wundervollen Menschen dafür zu danken, dass sie mich ein Stück weit zu dem Menschen, der ich heute bin, gemacht haben, indem sie immer wieder aufs Neue Menschen ihre Freiheit nehmen wollen, oder diejenigen, denen die Demokratie lästig auf dem Weg zur eigenen vollkommenen Macht ist, die ihre Inkompetenz und gruseligen Vorstellungen von Moral, Normen und Werten immer wieder aufs Neue beweisen. Vielen Dank! Sie zeigen den Menschen immer und immer wieder, wo Menschlichkeit überall verloren gehen kann, Macht missbraucht, Individualität missachtet und Freiheit beziehungsweise Unabhängigkeit genommen werden kann. Wirklich, meine Herren, das ist es, was die Menschheit (oder sollte ich sagen die Menschlichkeit?) voranbringt und braucht. Sie wecken Vertrauen in den Menschen in die Politik, fördern die eigene Meinungsbildung und machen alles richtig, was auch sonst? Autoritär? Korrupt? Was soll das schon sein? Fragen und offensichtliche Antworten, verleugnet während Antisemitismus durch Anti-Soros-Plakataktionen geschürt wird, die wohl bemerkt von der Regierung ausgeführt wurde. Sollte man sich nicht spätestens dann Gedanken um Moral machen? Ach was. Ich zitiere, ebenfalls eine besonders ekelhafte Erscheinung der AfD, die hier nochmal aufzeigt, wie Aufarbeitung und der Blick ins Geschichtsbuch nicht funktionieren: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte.“ Joa, das passiert halt, wenn man als Mitglied der AfD irgendwie geistig etwa 85 Jahre zurückgeblieben ist. Er konnte gar nicht anders, der arme Gauland, und dann versteht ihn diese blöde „Lügenpresse“ auch noch so, wie er es eigentlich wollte. Blöd gelaufen… Aber das war ja alles nur ein Versehen, ein Missverständnis. Ich meine, sollte die AfD sich jemals irgendwie rechtsextrem äußern oder irgendwelche verfassungsfeindlichen Merkmale aufweisen… Sie wissen, wir haben ja den Verfassungsschutz.

Der Verfassungsschutz weist ja bekanntlich eine unglaubliche Erfolgsgeschichte auf – NPD-Verbot? Upsi, da sind wohl zu viele V-Leute in der Parteispitze. Egal, macht ja nichts, die sind eh zu klein, um gefährlich zu werden. Sollte man die AfD wenigstens beobachten? Was? Ne, wieso das denn. Die AfD ist doch nicht verfassungsfeindlich. So eine liebe, offene und menschliche Partei kann man doch nicht beobachten. Da beobachten wir doch lieber die Linke. Oder? Wesentlich entspannter. Aber genug von mir und meinen politischen Ansichten. Falls Sie also doch noch nicht wussten, was für ein unglaublich gefährlicher und schlechter Mensch ich bin – jetzt haben Sie einen kleinen Einblick bekommen. Und falls Sie sich jetzt nicht von mir abwenden und sagen, diesem Typen muss ich nicht länger zuhören, dann danke ich Ihnen ebenfalls und leite nun zu meinem eigentlichen Thema über, besser gesagt zu einer Frage, die mich seit dem schriftlichen Mini-Interview durch Hermann Vaske nicht mehr los lässt: Wenn man Regierungen ärgern und seine Meinung vertreten und andere Menschen unterstützen will, muss man kreativ sein. Denn was nützt mir der Wille, wenn ich nicht weiß, wie ich auf bestimmte Dinge aufmerksam mache? Oder wie man verschiedene Gruppen unterstützen und ihnen helfen kann? Und wieso sollte ich eigentlich eine bestimmte Meinung zu bestimmten Themen haben? Wieso sollte ich mich für etwas oder für andere Menschen einsetzen und sie fördern beziehungsweise unterstützen? Schließlich könnte ich ja auch das Geld einfach für mich behalten und wie viele Bekannte auf so einer schönen, stinkenden, die Umwelt verpestenden Dreckschleuder über die Weltmeere tuckern. So lange lebe ich jetzt auch nicht mehr, mir doch egal, ob zukünftige Generationen weggeschwemmt oder durch die Abgase in der Luft alle sterben, das kriege ich ja nicht mehr mit. Die Wahrheit ist: Ich tue das, und das ist mir in der letzten Zeit erst aufgefallen, weil ich kreativ bin. Weil ich mein Gehirn dazu benutzen kann, zu denken, weil ich meine Vorstellungskraft dazu nutzen kann, mir die Welt, die mir so nicht gefällt, in Gedanken umzugestalten. Weil ich mir eine bessere Welt, eine offene, freie und demokratische Welt vorstellen kann. Eine Welt, die neue Ideen mit offenen Armen empfängt, mit stetiger Verbesserung des Handels – mit einem funktionierendem Rechtssystem und einer sozialen Gesellschaft! Der nächste Schritt, meine persönliche Auslebung der Kreativität, das, worin wir uns alle irgendwie unterscheiden, ist für mich die Entgegenstellung meiner Gedanken mit der Realität. Bittere Sache, kann ich bloß sagen, aber Gedanken allein bringen mich eben nicht weiter. Wir streben alle nach etwas – im Großen und Ganzen betrachtet – nach Glückseligkeit. Und das bringt uns zum nächsten Schritt: Wie handle ich in der Realität, um meinem praktisch unerreichbaren Ziel ein Stückchen näher zu kommen? Nun, ich finanziere, ganz einfach gesagt. Auch das kann ich übrigens nur, weil ich kreativ bin. Als Spekulant brauchen Sie eine ordentliche Portion Risikobereitschaft, Selbstbewusstsein und natürlich ein Gespür für Marktentwicklung. Ohne Kreativität geht das alles nicht. Die Welt ist einfach von Natur aus unvorhersehbar, da bringt es mir nichts, mich in einer Höhle zu verkriechen und keinerlei Risiko einzugehen, ganz einfach, dann hat man nie eine Chance. Und auch das Handeln von Menschen ist unvorhersehbar; man kann sich nicht auf das einstellen, was man denkt, was passieren wird.

Das bringt nichts, außer für ewig in festgefahrenen Strukturen zu stecken und aus seiner vermeintlich sicheren Routine nicht mehr herauszukommen. Blicken wir mal zurück: Nur weil Sexismus, Faschismus, Diktatur, Rassismus, Antisemitismus, Repression, Überwachung, Diskriminierung oder sonst was noch nie angezweifelt wurden, heißt das doch nicht, dass es gut ist! Wo wären wir denn, wenn es nie irgendwelche Veränderungen gegeben hätte? Einige denken jetzt vielleicht, oh, dann hätten Frauen und Minderheiten keine Rechte. Manche denken vielleicht noch weiter: oh, dann würde es staatliche Ordnungen wie heute ja gar nicht geben. Ich verrate Ihnen mal was: ohne Veränderung und ohne Kreativität gäbe es heute gar nichts, wir würden nämlich gar nicht existieren. Dann hätten unsere Vorfahren sich nämlich niemals so weit entwickelt, dass sie die damals bisherigen Strukturen verändert haben statt alles Unbekannte einfach aufzuessen, zu jagen oder wegzurennen und sich so nicht alle gegenseitig vernichtet haben.

Also halten wir zunächst fest: Kreativität ist Veränderung – aber auch Risiko: alles, was neu ist, was wir nicht kennen, kann alles sein – ob gut oder gefährlich, das kann uns vorher niemand sagen. Aber an diesem Punkt kommt es auf Sie an, auf jeden Einzelnen von Ihnen. Gehen Sie das Risiko ein? Tun Sie es nicht? Das kommt auf Ihren Charakter an, auf Ihre Erfahrungen, innerliche und äußere Umstände an. Meine Person ist ziemlich risikobereit, mir bleibt nichts anderes übrig als mein Gedankenexperiment in der Realität zu testen. Abgesehen von Risiko, verbinde ich Kreativität auch automatisch mit meiner eigenen Vorstellungskraft, die zwangsläufig notwendig für Veränderung und eigene Kreativität ist – denn ohne Luft zu holen kann ich ja auch nicht ausatmen. Um aber überhaupt atmen zu wollen und kreativ sein zu wollen, muss es vorher einen Haken geben. Denn kreativ bin ich nicht, weil ich glücklich bin, kreativ bin ich nicht, weil ich weiß was passieren wird. Dieser Haken, den ich brauche, ist unsere Welt. Dieser Haken ist die Unvorhersehbarkeit, der Zweifel, meine Chance, mein Muss, Risiko einzugehen und meine Kreativität auszuleben. Soll ich Ihnen verraten, wieso ich als Spekulant so erfolgreich bin? Wieso ich kreativ bin? Ich habe realisiert, dass die Welt, in der ich lebe, in der wir alle leben, von Natur aus unvorhersehbar ist. Ich muss meine Vorstellungskraft nutzen und sie der Realität entgegenstellen.

Und hier mein wahrer Dank: Sehr geehrter Herr Vaske, Sie haben mich zu unglaublich vielen Überlegungen inspiriert, und das mit einer einzigen Frage: Why are you creative? Eine eigentlich simple, kurze Frage, vier Wörter, einfach verständlich. Und auch wieder nicht. Für mich ist klar: ich will zeigen, dass es auch anders geht. Ich bin kreativ, weil ich nicht wissen kann, was kommt. Und ich bin kreativ, um zu verändern und so meinen Vorstellungen von einer Welt, in der ich gerne lebe, näher zu kommen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Why are you creative?

Why are you creative?

Bilder: pixabay.com