Eine Geschichte zwischendurch

„Herr Wenders*, warum sind Sie kreativ?“

Ein Text von Annalena Götten zum Thema „Why are you creative?“

anlässlich des Pullout-Tages 2018

Die Sonne, die der goldene Oktober schenkt, scheint auf mein Gesicht. Ich sitze schon den ganzen Nachmittag hier auf meiner Terrasse, die Zeitungen und Magazine vor mir aufgeschlagen. Die Welt außerhalb meiner Haustür habe ich heute lieber gemieden und deshalb sitze ich, eingemummelt in eine Wolldecke und mit einer Tasse heißen Tees, draußen genieße die das schöne Wetter. Ich war gerade am Lesen eines Artikels über Doping im Fußballsport, ich bin ein heimlicher Fan des Hertha BSC, als mein Smartphone piept, um mir zu signalisieren, dass ich eine E-Mail empfangen habe. Ich bin kurz davor meine Aufmerksamkeit weiter dem Artikel zu widmen, da ich den heutigen Tag gerne abgesondert von elektronischen Medien verbringen will und der anziehenden in Kraft des immer Erreichbar Seins zu widerstehen versuche. Doch irgendwie zeige ich in diesem Moment doch ein wenig Schwäche und entsperre mein Handy.
Die E-Mail, die mir zugesendet wurde, kann ich im Spamverdacht finden, der Absender ist mir unbekannt, doch bin ich neugierig, wer mir wohl etwas mitteilen wollte und so öffne ich die Nachricht ohne groß darüber nachzudenken. Als ich nun die geöffnete Mail lese, bin ich etwas enttäuscht. Was mir auf dem Bildschirm meines Smartphones entgegensprang, war die Frage: ‘ Why are you creative?’ Ich lese diese eine Zeile ganze 5 Mal hintereinander und scrolle auch die gesamte Nachricht mehrere Male nach unten, um mich zu vergewissern, dass ich auch nichts überlese, doch ich täusche mich nicht. Wer auch immer diese eine Zeile verschickt hat, will anscheinend nur diese Frage beantwortet haben. Was für eine Frage. Ich halte diese ganze Geschichte für einen schlechten Scherz, irgendein Jugendlicher hat sich bestimmt ein Spaß daraus gemacht, mir eine E-Mail zu schreiben. Und doch hindert mich etwas in meinem Inneren daran, das alles einfach so hinzunehmen. Also sehe ich mir die Adresse des Absenders genauer an: HeVa@ universität-berlin.de. Der Name ergibt für mich keinen Sinn und deshalb entscheide ich mich dafür, mein Postfach zu schließen und wende mich kopfschüttelnd, aber mit einem kleinen Grinsen auf dem Gesicht, wieder meinem Doping Artikel zu. Bald bemerke ich jedoch, dass ich mich nicht voll und ganz auf den Text konzentrieren kann, denn meine Gedanken wandern immer wieder zu der mysteriösen Nachricht zurück.

 

Ich bin mir sicher, irgendetwas muss dahinter stecken. Die Frage, warum ich kreativ sein, ist ja wohl sehr gut überlegt. Ein Jugendlicher würde so etwas nicht schreiben. Da mich das alles nicht loslässt, lege ich mein Magazin zur Seite und denke nach. Warum bin ich kreativ? Was heißt kreativ sein überhaupt? Das ist eine sehr interessante Frage, wie ich nach ein paar Minuten feststelle. Während ich meinen Gedanken nachgehe, kommt mir die Frage, ob der Absender der E-Mail eine Antwort von mir erwartet. So einen richtigen Text. Doch bei der Vorstellung, mich von meinen Computer zu setzen und planlos auf die Tastatur einzuschlagen, muss ich das Gesicht verziehen. Das bin nicht ich. Ich gehöre nicht vor den Computer, um Gedanken niederzuschreiben und Wörter loszulassen. Meine Schreibwaffe sind Stift und Papier. Mit dem festen Vorhaben jetzt und heute eine Antwort auf die Frage zu finden, erhebe ich mich aus meinem Sessel und gehe in mein Arbeitszimmer. Dort schnappe ich mir einen Block und einen Stift, kehre zum Wohnzimmer zurück  und… Ja, was mache ich dann?

Ich habe erwartet, dass die Worte nur so aus mir heraus strömen. So wie in jenen Nächten, die ich mit Drehbuchschreiben verbrachte.
Doch heute ist es anders. Das spüre ich und ein unbehagliches Gefühl macht sich in mir breit. Wo ist der Wim mit den vielen Ideen? Wo ist der Wim, der bis 5 Uhr morgens arbeitet? Wo ist der Wim, der nicht zu stoppen ist, wenn erst einmal ein paar Worte auf dem Papier stehen? Dieser Wim ist heute nicht hier. Zumindest sitzt er gerade nicht in diesem Sessel vor dieser außergewöhnlichen Aufgabe. Vielleicht macht dieser Wim gerade einen Spaziergang am Ufer der Elbe durch die herbstliche Sonne, um sich von seinen Schreibphasen zu erholen. Schlagartig wird mir klar, dass man nicht immer an Gewohnheiten, wie dem Drehbuchschreiben, festhalten kann. Abweichungen und Änderungen sind menschlich und wichtig. Ohne Veränderungen wäre das Leben ja langweilig. Und dieses Andere macht sich nun auch direkt bei mir bemerkbar.

Meine Aufgabe ist es, über den Grund für das Kreativ-Sein nachzudenken und die Art und Weise, wie ich es ausdrücken will, wird zum ersten Mal nichts Geschriebenes sein.

Ein wenig beruhigt bin ich nach dieser Einsicht schon, denn ich respektiere das, wenn auch mit einem Blick der Unverständlichkeit, gleichzeitig aber auch einem  Lächeln auf dem Gesicht. Nach diesem kurzen Gedanken-Exkurs finde ich mich vor dem leeren Blatt Papier wieder, schließe kurz die Augen und lasse meiner Fantasie freien Lauf.

 

Ich verlasse den Sessel, das Wohnzimmer, meine Wohnung, Berlin und Deutschland. Wohin mich die Reise führt, das weiß ich nicht. Plötzlich aber spüre ich sandigen Grund unter mir. Ich kann die Wolldecke, die meine Beine gewärmt hat, nicht mehr spüren. Stattdessen fühle ich das glatte, leicht nasse Material einer Regenhose. Ich schlage die Augen auf und sehe mich um: Ich finde mich auf einem Spielplatz wieder, der nun eine Straße von dem Haus meiner Kindheit entfernt ist. In meiner linken Hand halte ich eine Plastikwaffel, die mit einer Eiskugel aus Sand gefüllt ist. Einer meiner  Arme ist ausgestreckt zu jemandem, der außerhalb des Sandkastens sitzt. Es ist mein Lieblingskuschelbär Fridolin, der mich mit treuen Augen ansah und auf das Sandeis wartet. Mein um Jahre jüngeres Ich streckt die rechte Hand aus und berührt den weichen Kopf des Bären. Er fühlt sich so flauschig an und ich will meinen Fridolin am liebsten nicht mehr loslassen.

In diesem Moment stelle ich mir ein letztes Mal die Frage: „Warum bist du kreativ?“ Plötzlich fällt mir die Antwort wie Schuppen vor die Augen. Ich verlasse den Spielplatz, Fridolin und auch mein Kindheits-Ich und komme zurück in mein Wohnzimmer.

 

Nachdem ich alle Sinne wieder beisammen habe, nehme ich die Kappe eines Stiftes ab und setzte die Mine auf das Papier. Langsam und mit Bedacht bewege ich den Stift auf dem weißen Papier hin und her. Nach einigen Minuten schließe ich den Stift wieder und richte den Blick auf mein Werk. Was ich gemalt habe, war der Kopf von Fridolin. Mit einfachen und klaren Linien habe ich die Umrisse des Bären gezeichnet und ihm mit den treuen Augen, der großen Nase und dem breiten Grinsen ein Gesicht verliehen. Um seinen Hals ist ein kleines Schild mit der Aufschrift „Because“ gebunden. Ich nehme meine Zeichnung dann noch einmal ganz genau unter die Lupe und bin mir nicht mehr sicher, warum um alles in der Welt „Because“ auf meinem Blatt steht.

Warum habe ich überhaupt etwas geschrieben? Because. Das heißt auf Deutsch „weil“. Einfach nur weil. Weil… So wie Kinder oft antworten, wenn Argumente fehlen. Das heißt also, dass weil keine Argumente braucht.

 

Kreativ-Sein ist für mich selbstverständlich, eine Anlage, die in jedem Menschen vergraben ist. Man muss nur Energie aufwenden und die Schaufel in die Hand nehmen, um sie auszubuddeln. Dennoch bleibt für mich unerklärlich, warum ich ausgerechnet Fridolin gemalt habe. Nach einigen Minuten des Zweifels wird mir klar, dass genau das der Grund für meine Kreativität ist. Momente, Erlebnisse und Beobachtungen werden verarbeite ich, indem ich eine Geschichte dazu schreibe oder eben etwas zeichne. Ich habe diesen Bären gemalt, weil meine Passion für Kreativität nicht in Worte fassbar ist und in dem Moment eine Zeichnung für mich mehr aussagt. Ich muss ehrlich sagen, dass das, was ich gerade zu Papier gebracht habe, ja schon ein bisschen kindisch und lächerlich ist. Aber Kreativität ist für mich genauso: einfach, lebendig und vielfältig! Eben so, wie auch die Kindheit ist oder zumindest sein sollte.

 

Ein letztes Mal sehe ich mir meinen gemalten Fridolin an und muss zugeben, dass ich zufrieden mit meinem Werk bin. Diese Ironie und Doppeldeutigkeit gefällt mir: Ich als erwachsener Mann, der einen Kuscheltier-Bären malt, stelle mich gegen das Normale, mache mal nicht das, was alle machen und schwimme gegen den Strom.  Mit der Neugier, wissen zu wollen, wer diese Aufgabe gestellt hat, komme ich zurück und so scanne ich das Bild ein und schicke es dem Absender. Da geht mir ein Licht auf und ich sehe mir die Adresse des Absenders noch einmal an. Ich krame in meinem Kopf, denn irgendwo habe ich diese Adresse schon einmal gesehen…

Da schießt es mir wie ein Geistesblitz durch den Kopf. HeVa stand für Hermann Vaske, den bekannten Regisseur. Vor ein paar Tagen ist mir ein Werbeplakat seiner Umfrage zu dem Thema „Why are you creative?“ beim Spazierengehen aufgefallen.

Ich musste unwillkürlich schmunzeln. Ich, Wim Wenders, bin einer der Befragten zu seiner Umfrage! Das macht mich stolz und dieses Gefühl bestärkt mich darin, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, indem ich Fridolin gemalt habe.

Meinen Lieblingskuschelbären Fridolin.


* Wim Wenders (* 14. August 1945 als Wilhelm Ernst Wenders in Düsseldorf) ist ein deutscher Regisseur und Fotograf.

Why are you creative?

Why are you creative?

Fotos: pixabay.com