Recht auf Unbeschwertheit
Ein Essay von Lea Jähnel, Q2
Mal wieder bekommen wir eine Frage im Unterricht gestellt. Diesmal: Können Eltern ihr Kind auf den Tod vorbereiten? „Bilden Sie sich eine Meinung“, sagt der Lehrer, „wir sprechen darüber in 2 Minuten.“ Man sitzt also auf diesem kalten, unbequemen Stuhl und denkt über eine Frage nach, mit der sich Philosophen vermutlich Monate beschäftigen würden. Von uns wird verlangt, dass wir uns zu so einer tiefgründigen Frage binnen Minuten eine Meinung bilden und dann eine Diskussion
starten sollen. Es wäre wichtig, dass Schüler lernen, sich eine eigene Meinung bilden können, heißt es von Seiten der Lehrer. Ich bin sprachlos. Das sensible Fell der Schüler krallt man sich, mit dem unsensiblen Umgang so schmerzhafter Themen. Meine Empfindungen, welche dabei aufkommen, sperren Lehrer in ein Glas, um Sachlichkeit zu erzwingen. Meine Gedanken schweifen noch den ganzen Tag umher, ich kann meine Gedanken nicht in Worte fassen. Schon in der nächsten Stunde befinde ich mich wieder in diesem kalten, grauen Raum. Diesmal eine Diskussion über Sterbehilfe. In ein paar Monaten werde ich dann meine Meinung mittels Noten bewertet sehen, eine kalte, nackte Zahl.
Das deutsche Schulsystem zwingt uns alle in die kalten Ketten eines Bewertungssystems, dass bei langem nicht fair ist. Wenn man einen Affen mit einem Elefanten vergleicht, indem man sie beide einen Baum hochklettern lassen will, wo bleibt dann die Gerechtigkeit? Jeder Schüler ist einzigartig, so wie ein Fingerabdruck. Und für Die Leistung bekommen wir einen Wert aufgedrückt, eine kalte, nackte Zahl. Eine Zahl, nicht greifbar, die über unseren Wert als Schüler bestimmt. Eine Zahl, die am Ende über unsere Zukunft entscheidet. Ist man nicht gut genug, wird man wie ein Fisch aus dem Meer gefischt.
Schon diese kleinen jungen Menschen werden in ihrer Persönlichkeit geprägt, wenn man ihnen ein Label mit gut oder schlecht aufzwingt. Ist man nicht gut genug, darf man nicht aufs Gymnasium. Durch diesen Käfig wird die Individualität gekonnt unterdrückt. Jeder versucht sich dem System anzupassen, eigene Interessen werden vernachlässigt. Doch in dieser Welt ganz in schwarz-weiß fehlt genau das: Individualität. Trotzdem wird diese nicht gefördert. Alle müssen das gleiche können und das gleiche wissen, dabei wird das im späteren Leben letztendlich nicht gefordert. Da kann sich jeder aus dem Meer der Möglichkeiten seine Kirsche wählen. Anstatt jeden seine Flügel ausbreiten zulassen, schneidet man sie ihnen ab.
Im hessischen Schulgesetz wird festgehalten, dass die Schule uns auf unsere Aufgaben als Bürger vorbereiten soll, doch wie soll das gehen, wenn wir Schüler in unserer eigenen Blase aus Gedichten, Zahlen und Geschichte leben, abseits von der Realität. Niemand zeigt uns die harte Realität von Steuererklärungen, Versicherung oder anderen bürgerlichen Pflichten. Natürlich dienen auch die Grundlagen dazu, uns breitgefächert auf zukünftige Herausforderungen vorzubereiten, bei denen wir Mathe und Deutsch anwenden können. Aber das sind nicht die relevanten Dinge im Leben. Wir sind andauernd umgeben von unseren Mitmenschen, wir sind alle Teil einer Gemeinschaft. Gerade in Zeiten, in denen Mann wortlos aneinander vorbeirennt und den Blick für einander verliert, werden Werte des Miteinanders immer wichtiger. Doch dieser Entwicklung nimmt der Lehrplan den Wind aus den Segeln. Gruppenarbeit wird zum Unmöglichen gemacht, wir rennen wortlos durch einen undurchdringlichen Wald aus Fakten, Wissen, Neuem, unfähig zu atmen.
Zu viele Themen müssen abgehandelt werden. Das Miteinander wird nicht dadurch gefördert, dass der Wettbewerb unter den Schülern immer angeheizt wird. Es lastet ein so großer Druck auf uns, das Verlangen nach guten Noten wächst. Der Durst kann nicht gestillt werden, also stürzen wir wie wilde Löwen ins Gefecht. Jeder muss besser sein, mehr Leistung erbringen. Andere berücksichtigen wir gar nicht, es beginnt ein Kampf ums Überleben. Es wird Hass geschürt, Freundschaft vernachlässigt und das alles nur, weil unser Schulsystem uns diese falschen Ideale aufzwängt, uns damit kaputt macht. Am Ende gibt es nur Gewinnen oder Verlieren, dabei interessiert es niemanden, wer auf diesem Weg zurückgeblieben ist, es bleiben Schüler ohne Worte, verstummt mit der Zeit. Das macht krank, macht die Schüler kaputt. So viele Schülern haben das Gefühl zu ertrinken, etliche in psychotherapeutischer Behandlung, doch das sind ja nur Kollateralschäden.
Warum können wir Schüler nicht einfach in Zukunft unseren Interessen mehr nachgehen und bei unseren Stundenplänen mitwirken? Warum gibt man uns nicht die Freiheit, abseits von Noten zu lernen und zu leben? Wir brauchen Individualität, Werte und Spaß. Wir brauchen nicht noch mehr Druck, der uns das Recht auf jugendliche Unbeschwertheit raubt!
"Materialgestütztes Schreiben" heißt eine anspruchsvolle Unterrichtseinheit in der Jahrgangsstufe 12. Es gilt dabei, jeweils einen Berg von unterschiedlichen Materialien (Grafiken, Berichte, Essays, Karikaturen, Kommentare usw.) zu sichten, sich zu positionieren und einen meinungsbildenden, journalistischen Text zu verfassen. In diesem Falle stand zur Diskussion, ob unser Schulsystem, noch zeitgemäß ist: "Steuererklärung, Patentanmeldung, Businessplan – Muss in der Schule mehr Anwendungswissen unterrichtet werden?"
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