„Solidarität gilt für alle!“

HEADLINE-Nachgefragt bei der Linken-Politikerin Janine Wissler (MdB)

Ein Interview von Lukas Harper, Klasse 8d

Janine Wissler war zur vergangenen Bundestagswahl die Spitzenkandidatin der hessischen Linken und das bereits davor schon einige Male auf Bundesebene. Seit 2021 ist sie Mitglied des Bundestags. Über den Neustart der Linken, ihre Beziehung zu Sarah Wagenknecht und Bildungspolitik habe ich mit ihr gesprochen. Viel Spaß beim Lesen!

Viele meiner Gesprächspartner habe ich bisher gefragt, ob sie schon einmal politisch angefeindet wurden. Von Dir weiß man das ziemlich genau. Im Jahr Februar 2020 hast Du anonyme Morddrohungen erhalten, unterzeichnet mit dem Kürzel „NSU 2.0“. Was glaubst Du: Warum wurdest gerade Du zum Ziel solcher Angriffe?

Es gab ja viele Empfänger*innen, vor allem Empfängerinnen, dieser NSU 2.0-Morddrohungen. Das waren vor allem Frauen, die sich gegen rechts engagiert haben, gegen Nazis, für geflüchtete Menschen, gegen Abschiebungen. Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass das damit zu tun hatte, dass ich im NSU-Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags gesessen habe und mehrfach zu diesem Thema in Talkshows war. Aus diesen Gründen ist anzunehmen, dass ich zu einer der Adressatinnen dieser Drohungen wurde.

Wie bist Du persönlich mit diesen Drohungen umgegangen – was macht so etwas mit einem Menschen?

Ich muss dazu sagen, dass das nicht das erste Mal war, dass ich bedroht wurde oder Drohmails bekam, aber das Erschreckende war, dass da private Daten in der Mail von mir standen, die nicht öffentlich auffindbar sind. Das Kürzel NSU 2.0 war mir natürlich bekannt , weil ja anderthalb Jahre vorher schon eine Frankfurter Rechtsanwältin genau von diesem Absender auch bedroht wurde und sich herausgestellt hat, dass ihre persönlichen Daten von einem Polizeicomputer abgefragt wurden. Als ich die Nachricht gelesen habe, war mir klar, dass das der gleiche Absender ist. Es konnte also sehr gut sein, dass auch meine Daten abgefragt wurden. Das macht einem dann schon mehr Sorgen als eine Drohung in den Sozialen Netzwerken. Natürlich habe ich das dann zur Anzeige gebracht. Klar fühlt man sich da bedroht. Jetzt muss man ja auch sagen, dass es in Hessen einen NSU-Mord gab, sowie den Mord an Walter Lübcke, es gab wenige Tage, nachdem ich die erste Morddrohung erhalten habe das Attentat in Hanau, bei dem neun Menschen ermordet wurden, also von daher macht einem das, angesichts der Zunahme des Rechtsterrorismus, der Gefahr und der Gewalt von rechts, ist das sehr bedrohlich!

Claudia Schick hat in Zusammenhang mit dem NSU 2.0-Verfahren 2020 in der hessenschau gesagt: „Wenn es um den Kampf gegen rechts geht, ist sie [Janine Wissler] immer an vorderster Front dabei.“ Bleibt diese Mission bestehen?

(lacht) Hatte ich gar nicht auf dem Schirm, dass sie das gesagt hat. Aber ja, natürlich! Solche Drohungen zeigen ja die Notwendigkeit, gegen rechts zu kämpfen. Man muss auch sagen, dass bei den allermeisten Bedrohungen von rechts die Opfer nicht bekannte Politikerinnen und Politiker sind oder prominente Menschen, sondern die meisten Drohungen richten sich gegen Menschen, die wegen ihres vermeintlichen oder tatsächlichen Migrationshintergrunds angefeindet werden oder wegen ihrer Religion, ihrer Hautfarbe und vielem mehr. Deswegen ist es auch notwendig, dass alle demokratischen Kräfte, auch vor dem Hintergrund unserer Geschichte, sich gegen rassistische, antisemitische und faschistische Kräfte stellen und diese Gefahr von rechts bekämpfen.

Deine Eltern waren in der DKP aktiv und später eher im grünen Spektrum unterwegs. Was hat Dich persönlich dazu bewegt, Dich ausgerechnet für die Linke zu engagieren?

Um das ein bisschen zu korrigieren: Meine Mutter war dort und aktiv. Sie hat in den Anfangsjahren der Partei die Grünen gewählt, aber war dort nie aktiv! Soweit zur Fragestellung. Es wurde bei uns zuhause immer viel über politische Fragen diskutiert. Gerade auch über deutsche Geschichte. Meine Eltern sind mit mir im Alter von 8 Jahren in die KZ-Gedenkstätte Dachau gefahren. Es war ihnen schon wichtig, dass ich damit früh in Berührung komme, um mich damit auch ein Stück weit zu immunisieren. “Nie wieder Krieg!“, „Nie wieder Faschismus!“, das war schon etwas, was meine Eltern mir mitgegeben haben. Bei uns zuhause hing an der Küchentür ein Bild von Rosa Luxemburg (Anm. d. Red.: Rosa Luxemburg war eine sozialistische, marxistische und antimilitaristische Politikerin und Revolutionärin.), ich komme also aus einer linken Familie, in der viel diskutiert wurde. Da gibt es jetzt nicht einen speziellen Moment, wo ich sage, das hat mich politisiert. Was für mich aber prägend war, waren die rechtsradikalen Angriffe in den 90ern. Das waren Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen, wo man dachte, dass sich wieder etwas zusammenbraut und wieder sind die Opfer Menschen, aufgrund von Religion und Herkunft. Ich empfand die Welt, wie sie ist, als zutiefst ungerecht. Dass es ungerecht ist, dass die einen im Reichtum schwimmen, während die anderen kein Geld für Essen oder eine Wohnung haben. Man muss alles dafür tun, dass die Welt gerechter wird! Dass Reichtum gerecht verteilt ist, dass alle Menschen gleichberechtigt sind und niemand unterdrückt wird. Das hat mich motiviert, mich als Schülerin politisch zu engagieren. Später, viele Jahre später, dann auch in einer Partei.

Wo wir gerade bei der Partei sind: Während der Bundestagswahl kam es mir so vor, als dass die Linke, vor allem zu Beginn, als noch nicht klar war, ob man den Einzug schafft, mehr auf die einzelnen Personen der Partei gesetzt hat als auf die Inhalte. Ich denke da an die Mission Silberlocke oder den Social-Media-Auftritt von Heidi Reichinnek. Wie kam man denn auf die Idee, sich damit „retten“ zu wollen?

Naja, ich würde schon sagen, dass wir beides gemacht haben. Wir haben die inhaltlichen Themen, allen voran das bezahlbare Wohnen und die Umverteilung, also die stärkere Besteuerung von Superreichen, nach vorne gestellt. Unser Ziel war es natürlich über 5 Prozent zu kommen. Das haben wir ja dann auch sehr gut geschafft. Drei gewonnenen Wahlkreise qualifizieren neben der Überwindung der 5%-Hürde auch zum Einzug in den Bundestag. Es geht immer um politische Inhalte, aber letztlich auch um Personen, die diese Inhalte glaubwürdig transportieren und vertreten. Von daher würde ich sagen, dass die Strategie aufgegangen ist, sowohl was die Inhalte als auch die Personen angeht.

Apropos Personen, die im Zentrum stehen: Wie würdest Du denn heute Dein Verhältnis zu Sahra Wagenknecht beschreiben?

Es gibt kein Verhältnis mehr.

Ihr redet gar nicht mehr miteinander, oder wie darf ich das verstehen?

Ja, denn es gibt gar keine Berührungspunkte mehr. In den Jahren, in denen sie noch in der Partei war, klar. Aber jetzt aktuell haben wir kein Verhältnis mehr. Sie ist ja auch nicht mehr im Bundestag, also gibt es gar keinen Kontakt mehr.

Was ist aus Deiner Sicht der größte Unterschied inhaltlich zwischen der Linken und dem Bündnis Sahra Wagenknecht?

Es gibt diverse Unterschiede. Für uns als Linke ist klar: Solidarität gilt für alle! Die Würde des Menschen ist unantastbar! Mit Menschen sind alle Menschen gemeint. Egal welcher Herkunft, welchem Pass, welcher Hautfarbe. Für uns war immer klar: Links sein bedeutet eine ganz klare Brandmauer nach rechts, die hat das BSW nicht. Sie haben ja auch mit der AfD, der FDP und der Union zusammengestimmt. (Anm. d. Red.: Gemeint sind in diesem Kontext zwei heftig umstrittene Abstimmungen im Bundestag aus dem vergangenen Januar. Die CDU/CSU-Fraktion hatte einen Entschließungantrag und einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, bei welchem eine Mehrheit nur durch die AfD zustande kam. Die „gefallene Brandmauer“ wurde zum Diskussionsthema Nummer 1.) Das ist natürlich ein wichtiger Unterschied. Aber auch, wenn ich jetzt zum Beispiel höre, was sie im Thema Klimaschutz so von sich geben, dann sind das alles nicht unsere Positionen. Wir wollen Klimaschutz voranbringen. und es gibt vor allem viele Unterschiede in der politischen Kultur. Wir sind eine Partei mit fast hunderttausend Mitgliedern. Wobei, sind wir nicht schon hunderttausend? Muss ich mal nachgucken. (Anm. d. Red.: Das haben wir bereits getan. Laut ZDF hat Die Linke knapp 112.000 Mitglieder bundesweit und hat damit ihre Mitgliederanzahl innerhalb eines Jahres verdoppelt.) Wir sind eine demokratische Partei, in der unsere Mitglieder natürlich mitdiskutieren und mitbestimmen können über die Inhalte der Partei. Das BSW ist eher so ein Sahra-Wahl-Verein, wo ganz exquisit ausgewählt wird, wer Mitglied werden darf. Das ist überhaupt nicht mein Verständnis von demokratischer Parteikultur oder Parteipolitik. So eine Partei möchte ich nie haben.

Das war jetzt mehr als ein Unterschied… Gibt es trotzdem Themen, bei denen auch Du mit Deiner Partei auch mal kritisch bist?

(überlegt lange) Sagen wir mal so: Eine Partei, wie Die Linke, die ja schon ein breites Spektrum vereint, da gibt es immer mal Sachen, wo man denkt, das hätte ich gerne ein bisschen anders gehabt, aber jetzt haben wir einen Kompromiss gefunden. Oder es gibt Punkte, wo wir gesagt haben, da bleiben jetzt gewisse Positionen auch mal nebeneinanderstehen. Von daher gibt es schon Sachen, bei denen man sich eine klarere Positionierung wünschen würde, aber es gibt keinen Punkt, wo ich sage, da finde ich die Position der Partei komplett falsch. Es ist eher so, dass man denkt: „Da könnten wir ein bisschen entschiedener sein“ oder „Da würde ich es mir offensiver wünschen“. Dass ich eine Position der Linken komplett daneben finde, das gibt es nicht.

Wo sollte es denn offensiver sein?

Ich glaube, dass wir öfter offensiver sein können, was die Frage der Umverteilung angeht. Dass es bei Umverteilung eben nicht nur um eine andere Steuerpolitik geht, sondern, dass man grundsätzlich die Frage stellen sollte, was überhaupt wem gehört und warum. Und ob das so gerechtfertigt ist. Warum sollten Krankenhäuser Profite machen. Das sind Themen, wo ich glaube, dass wir in der Öffentlichkeit ein stärkeres Profil haben sollten.

Blicke bitte einmal zurück: Du hast 2001 an der Ricarda-Huch-Schule in Dreieich Abitur gemacht. Was hat Dich damals am Bildungssystem gestört?

Jede Menge! (lacht) Aber eigentlich ähnliche Sachen, die mich heute auch stören. Es gibt jetzt viele Punkte, die ich nennen könnte: zu große Klassen, zu schlechte Ausstattung, aber was mich auch gestört hat, ist, dass Schule sehr stark auf Fehler und Defizite orientiert ist. Schule soll doch junge Menschen ermutigen. Sie soll ihnen Selbstbewusstsein geben, ihnen zeigen, was sie können. Ich hatte aber eher das Gefühl, dass Schule Kinder und Jugendliche beschämt. Ich war keine schlechte Schülerin, früher war ich eine gute Schülerin, in den letzten Jahren, naja. Ging so. Das kennst Du ja sicher: Wenn die Klassenarbeiten ausgeteilt werden und dann vorher der Notenspiegel an die Tafel geschrieben wird. Dann gibt es halt immer zwei Fünfer und die eine Sechs. Dann wird rumgefragt: „Wer hat die Fünfer? Wer hat die Sechs?“ Dieser Druck durch schlechte Noten, durch die Gefahr vom Sitzenbleiben – Das hat ja nichts mit Lust am Lernen zu tun! Das fand ich immer total störend. Sitzenbleiben beispielsweise, würde ich sofort abschaffen!

Und Hausaufgaben auch, habe ich gehört.

Hausaufgaben auch! Und das Sitzenbleiben, das ist so ein Quatsch. Wenn Kinder und Jugendliche dann auch zweimal sitzengeblieben sind, sie sind immer die ältesten Schüler in der Klasse, werden aus ihrem Freundeskreis rausgerissen. Es ist so ein Damoklesschwert. (Anm. d. Red.: Damoklesschwert kommt aus dem gehobenen Deutschen. Es ist vor allem ein biblischer Ausdruck, der die Angst, die einen Menschen am Spaß haben hindert, bezeichnet.) Man hat Angst vorm Sitzenbleiben und wenn sich die Eltern die Nachhilfe nicht leisten können, dann ist das unfair. Wir wissen – das ist meine Hauptkritik am Bildungssystem – dass die Bildungschancen maßgeblich von der Herkunft abhängen. Und wer selbst Akademiker-Eltern hat, wer reiche Eltern hat, ist faktisch im Vorteil. Kinder aus ärmeren Familien, aus Arbeiterfamilien, aus migrantischen Familien, sind strukturell benachteiligt… selbst, wenn sie die gleiche Leistung bringen Schule muss unterschiedliche Startchancen ausgleichen. Ich habe aber eher den Eindruck, dass das deutsche Schulsystem die unterschiedlichen Startchancen verfestigt. Dadurch dass man so früh, nach der vierten Klasse, sagt: „Du gehst auf die Hauptschule, du gehst auf die Realschule und du aufs Gymnasium.“ – Dass man diese Trennung so früh vornimmt, halte ich für ein riesiges Problem. Und natürlich auch, dass Kinder mit Behinderung oder Lernschwäche in vielen Fällen nicht inklusiv beschult werden. Das würde ich mir wünschen. Bildung unabhängig von der Herkunft, jedes Kind fördern, mitnehmen, nicht beschämen und diesen Druck und diese Angst rausnehmen. Ich habe Nachhilfeunterricht gegeben, als ich noch selbst Schülerin war. Ich hatte eine Schülerin, wenn ich mit ihr Englisch oder Mathe gelernt habe,  konnte sie das alles.  Aber sobald sie eine Prüfung schreiben musste, hat das Kind Magenkrämpfe gekriegt, hat angefangen zu zittern und hat jede Prüfung verhauen. Sie bekam eine schlechte Note, aber eigentlich wurde das den Fähigkeiten des Kindes überhaupt nicht gerecht. Deshalb finde ich: Druck rausnehmen, Stress rausnehmen und man muss Spaß beim Lernen haben!

Ich würde gerne nochmal zurückkommen auf den Aspekt des Sitzenbleibens, denn wie würde man das denn lösen, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher den Anforderungen der Leistung nicht entspricht oder im Stoff nicht hinterherkommt? Was macht man denn dann, statt den Schüler oder die Schülerin die Klasse wiederholen zu lassen? Wie möchte man dafür sorgen, dass alle auf dem gleichen Lernstand sind?

Zum einen natürlich durch gezielte Förderung. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich kenne gar nicht so viele Leute, die nach dem Sitzenbleiben zu guten Schülern geworden sind. (Anm. d. Red.: Mit Blick auf die Schülerschaft des Graf-Stauffenberg-Gymnasiums lässt sich das nicht pauschal sagen.) Und mal ganz ehrlich: Wenn Du in zwei Fächern eine 5 hast, warum musst Du dann nochmal ein ganzes Jahr alle anderen Fächer wiederholen, in denen Du gar keine Defizite hast. Ich würde auch sagen, es gibt nicht den schlechten und den guten Schüler, sondern es gibt Schüler mit verschiedenen Stärken und Schwächen. Es hängt ja auch oft von der Lebensphase ab. Es gibt Leute, die in der Grundschule gut sind und dann kommen ein paar schwierige Jahre. Deshalb braucht es gezielte Förderung, wenn jemand in Mathematik schlecht ist und sollte daran arbeiten und fördern, dass er oder sie auf den gleichen Stand kommt.

Die Fakten sind ja, dass die Linke auf Landesebene gar nicht mehr so viel zu sagen hat. Das ist seit 2023 so, als ihr krachend aus dem Landtag geflogen seid. Wie möchte Deine Partei trotzdem konkret die Schulen in Hessen verbessern?

Natürlich ist das Ziel, wieder in den Hessischen Landtag einzuziehen. Gerade Hessen zeigt, dass man durch gesellschaftlichen Druck, vor allem im Bildungsbereich, sehr viel erreichen kann. Ich will nur daran erinnern, dass Hessen auch mal Studiengebühren hatte. Die sind 2006 eingeführt worden. Und es war eine wirklich breite Bewegung von Studierenden und Gewerkschaften, die jahrelang darum gekämpft haben, dass die Studiengebühren wieder abgeschafft werden. Wir wollen bis 2028 Die Linke in Hessen stark machen. Wir haben unsere Mitgliederzahlen verdoppelt und die Kommunalwahlen im nächsten Jahr vor uns. Die werden sehr wichtig sein, nicht zuletzt auch im Bereich der Bildungspolitik.

Ich habe hier gerade die Zahlen der Juniorwahlen bei uns an der Schule…

Das sah ja ganz gut aus für uns! (lacht)

Das wollte ich nämlich auch gerade sagen: Hier hat Die Linke neue Höchstwerte erreicht. Es waren bei uns an der Schule fast 25%.

In Flörsheim? Wow!

Bundesweit teilweise über 30%. Woran lag das aus Deiner Sicht?

Bei den jungen Wählern meinst Du?

Ja.

Ich denke, das hat mehrere Gründe: Also zum einen, dass gerade die letzten Wochen des Wahlkampfs davon geprägt waren, dass es diese Abstimmung im Bundestag gab, wo die Union zusammen mit der AfD gestimmt hat. Ich glaube, dass das viele, vor allem junge Menschen erschreckt und aufgerüttelt hat. Dass viele Menschen dachten, wenn man wirklich ein Zeichen gegen rechts setzen möchte und Solidarität mit Menschen, die flüchten müssen, zeigen möchte, dass dann Die Linke eine Kraft ist, die wirklich klar dafür steht. Das ist ein Punkt. Ich glaube, dass gerade das Wohnungsthema für junge Menschen, die irgendwann von zuhause ausziehen wollen und eben noch keinen jahrzehntealten Mietvertrag haben können, ein weiteres wichtiges Thema ist. Und sicher hat es auch geholfen, dass es in den Sozialen Netzwerken für uns ziemlich gut lief und die Partei insgesamt und vor allem die Kandidierenden dort eine gute Arbeit gemacht haben. Für uns war das sehr erfreulich. Denn man hat sich immer gefragt, warum die AfD so stark bei jungen Wählern ist, und jetzt haben wir das geschafft. Das ist toll, das ist ein Vertrauensvorschuss und jetzt müssen wir natürlich auch die Erwartungen erfüllen. Viele junge Menschen sind in die Partei eintreten. Das ist toll, es wird ja gerne von „der unpolitischen Jugend“ erzählt wird. So ist es ja offensichtlich nicht!

Beispielsweise Heidi Reichinnek hat in den Sozialen Medien mehr als 1,3 Millionen Followerinnen und Follower. Das ist eine gigantische Zahl an Menschen. Die kommen nicht von irgendwoher, man baut sich so eine Fanbase nicht über Nacht auf. Social-Media-Plattformen pushen auch Accounts oder Inhalte, die polarisieren. Das hat man ja vor allem an der AfD gut beobachten können. Andreas Jungherr von der Universität Bamberg spricht in einem BR24-Interview von „linke[m] Populismus“, wenn er über Deine Partei redet. War das auch einer der ausschlaggebenden Punkte, weshalb Die Linke das junge Publikum so erreichen konnte?

Naja, das ist jetzt wieder dieser Begriff des Populismus, der natürlich immer ein bisschen unscharf ist. Ich sage mal so: Wenn Populismus bedeutet, Phrasen zu dreschen, Inhalte so zu verkürzen, dass sie auch einfach falsch werden oder erst recht, wenn es darum geht Ressentiments zu schüren, dann ist Populismus etwas, was ich ablehne. Aber wenn man Populismus so definiert, dass man Positionen populär macht, sodass sie verständlich – nicht vereinfacht – sondern verständlich auf den Punkt gebracht werden, dass man auch mal zuspitzt, provoziert und das eben in einer Art und Weise, die die Menschen auch erreicht. Ich fand es immer falsch, wenn Politiker sich hingestellt haben und gesagt haben, dass Politik ganz kompliziert sei. Ja, vieles ist kompliziert, vieles ist aber auch total einfach. Wenn man sagt, dass die eigene Miete immer weiter steigt, und das Geld fließt in die Taschen von irgendwelchen Immobiliengroßkonzernen – So kompliziert ist der Zusammenhang nicht. Man sollte den Anspruch haben, Menschen zu erreichen und auch Klartext zu sprechen.

Wenn Du an 2030 denkst, welche Vision hast Du für die Zukunft in Deutschland?

(überlegt etwas) Puh, 2030. Das ist ja gar nicht mehr lange hin! Eine Vision wäre für mich, dass alle Menschen in diesem Land gut leben können, dass niemand von Armut betroffen ist. Dass jedes Kind unabhängig von der Herkunft die gleichen Chancen auf Bildung hat. Dass kein Kind in Armut aufwächst, dass jedes Kind unabhängig vom Geldbeutel der Eltern die Möglichkeit hat, ein Musikinstrument zu erlernen, einer Sportart nachzugehen. Dass alle Menschen die Möglichkeit haben, sich persönlich zu entfalten. Und natürlich wünsche ich mir eine Gesellschaft, in der niemand Angst haben muss, wenn er den Briefkasten öffnet, eine extrem hohe Stromrechnung oder eine Mieterhöhung vorzufinden. Deutschland ist eine der reichsten Volkswirtschaften der Welt, da muss es möglich sein, Reichtum so zu verteilen, dass niemand obdachlos ist, dass niemand in Armut leben muss, dass Rentner keine Pfandflaschen sammeln müssen, weil die Rente nicht reicht oder sich das Geburtstagsgeschenk für die Enkel. Dass Menschen, die den ganzen Tag arbeiten gehen, sich nicht mal einen Urlaub leisten oder essen gehen können. Ich möchte nicht, dass die einen in Saus und Braus leben, ihre Milliarden sortieren und gar nicht wissen, wohin damit, just for fun ins Weltall fliegen, während die anderen auf der Straße leben. Natürlich will ich auch, dass die Politik endlich beim Klima zu Potte kommt und wir die Verkehrswender hinbekommen. Dass wir die Gefahr von rechts und den Rassismus bekämpfen und eine Gesellschaft haben, in der es um Miteinander und Solidarität geht und nicht ein ständiges Gegeneinander. Das wäre meine Vision.


Janine Wissler und Lukas Harper haben sich vor Beginn des Interviews auf das „Du“ geeinigt. Dies hat jedoch keinen Einfluss auf die politische Neutralität unseres Redakteurs gehabt, wie aus den Fragen zu entnehmen war.

Das Interview wurde am Montag, den 05. Mai 2025 per Konferenzschalte geführt.

Am Tag des Interviews sind daher auch keine Bilder entstanden. Das Beitragsbild ist daher ein Pressefoto von Janine Wisslers Seite. Quelle: Andreas Chudowski
Alle weiteren Bildrechte liegen bei Lukas Harper, bzw. HEADLINE.